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Die Taktik der Jugendentmündigung ("Ageism")

Eine Erklärung zur Lesben- und Schwulengemeinschaft

by Michael AlhontePublished: 1983Updated:

Die TAKTIK der JUGENDENTMÜNDIGUNG ("AGEISM"):

Eine Erklärung zur Lesben- und Schwulengemeinschaft

von Michael Alhonte

Abstrakt:Jugendentmündigung ist ein Thema, dem viele Menschen aus der Lesben- und Schwulengemeinschaft wenig oder gar keine Beachtung schenken. Als schwuler Jugendliche haben wir das Gefühl, dass es nötig ist, dieses Thema in das Bewusstsein zu bringen, um Konflikte, die aus jugendentmündigenden Verhaltensweisen entstehen, zu verhindern. In diesem Aufsatz versuchen wir, Jugendentmündigung zu definieren und zu zeigen, wie sich diese innerhalb der Gemeinschaft offenbart. Auch wollen wir aufzeigen wie dieses Verhalten die Effizienz der Gemeinschaft als Ganzes bedroht und Vorschläge unterbreiten, wie die betroffenen Personen sich von ihren jugendmündigenden Verhaltensweisen befreien können.


Das Phantom der Jugendentmündigung befällt weite Bereiche der Gemeinschaft. Jugendentmündigende Verhaltensweisen und Taten sind so allgegenwärtig und allgemein anerkannt, dass die größte Schwierigkeit im Kampf gegen dieses Problem darin besteht, den Leuten erst klarzumachen, dass es hier überhaupt ein Problem gibt. Es ist schon äußerst merkwürdig, dass gerade die Leute, die vor jugendentmündigenden Verhaltensweisen strotzen, sich sonst gerade am heftigsten gegen Rassismus und Sexismus auflehnen. Wahrscheinlich ist bloß symptomatisch, dass sie mit tiefsitzenden Jugendvorbehalten noch nicht einmal unsere Beschwerden ernst nehmen. 
Aber was genau ist Jugendentmündigung? Einfach gesagt, Leute sind schuldig wegen Jugendentmündigung, wenn sie

Ideen oder Beiträge von Personen ignorieren allein auf Grund deren Jugendalters, 

es nicht verstehen, die Fähigkeiten einer Person, die nicht zu deren Jugendalter passen, zu erkennen,

unterstellen, dass das Verhalten einer Person direkt vom aktuellen Alter herrührt.

Jugendentmündigung hat ein eigenen Vokabular, einen eigenen Verhaltenskodex - selbst eine eigene Kultur. Wir sehen jugendentmündigendes Handeln in verschiedenen Niveaus. Jeder hat sicher schon mal den Spruch "Kinder sollten gesehen, aber nicht gehört werden". Dieses ist Unterdrückung in seiner reinsten Form, aber es gibt noch viel mehr subtilere Äußerungen von Jugendentmündigung. Diese reichen von der völligen Vernachlässigung der jungen Leute bis zu einem klischeehaften "Niedermachen" von freien Meinungsäußerungen Jugendlicher.

Wenn jemand das Wort "kindisch" benutzt, um unreifes Verhalten zu beschreiben, ist das jugendentmündigend. Wenn ein Fachgeschäft Jugendlichen unter 16 "ohne Begleitung Erwachsener" den Zutritt verweigert, ist das jugendentmündigend. Wenn Eltern ihre Kind als "süß" bezeichnen und damit "reizend" oder "trivial" meinen, ist das jugendentmündigend. Und wenn die Gesellschaft es ablehnt, eine(n) 14-jährige(n) als Erwachsene(n) zu akzeptieren, ist das auch Jugendentmündigung. 

Es überrascht nicht, dass jugendentmündigende Bemerkungen und Attitüden auch in der Schwulengemeinschaft häufig vorkommen. Es ist aber überraschend, dass die Mitglieder dieser Gemeinschaft, die diese Attitüden haben, so schnell vergessen haben, dass sie selbst jahrelang Opfer jugendentmündigenden Verhaltens waren. Sie haben die Eltern, Lehrer und Familienmitglieder vergessen, die versucht haben, sie in eine Konformistenuniform zu zwängen, ohne ihre Persönlichkeit zu beachten. Sie haben vergessen, wie es ist, wenn die eigenen Ideen einfach zur Seite geschoben werden oder diesen keine Beachtung geschenkt wird. Sie haben vergessen, wie es ist, wenn sie im Restaurant waren und von den Kellnern ignoriert worden sind, während Erwachsene prompt bedient wurden. Sie haben die Verlegenheit vergessen, wenn man "Junior" von einem gerade mal halb so großen Erwachsenen genannt wird. Sie haben vergessen, wie ist es, in diesem Land jung zu sein.

Jugendentmündigung ist eine einzigartige Form der Unterdrückung, die a) niemals permanent und b) total umkehrbar it. Unterdrückte werden von heute auf morgen zu Unterdrückern. Und dies äußert sich durch so gesellschaftlich sanktionierte Methoden wie das Stöhnen eines Vaters: "Als ich in Deinem Alter war, war ich schon ..." oder "Als ich so alt war wie Du, durfte ich auch nicht ...", die unterstellen, dass Verhaltensweisen sich in einfach beschriebenen Altersstufen vollziehen und niemand sich in einer Weise verhalten darf, die nicht zu der jeweiligen Altersstufe passen. Diese zyklischen, sich selbst tragenden Handlungsweisen sind das, was die Jugendentmündigung so gefährlich macht. Wenn die Ideen und Gefühle eines Kindes unterdrückt oder für ungültig erklärt werden, ist es sehr einfach, diese Ideen und Gefühle durch solche zu ersetzen, die nicht unbedingt deren eigene sind. Nachdem dies geschehen ist, ist das Kind bloß noch ein kleiner Klon sines Unterdrückers - bereit, jede Handlung des Unterdrückers in Gedanken, Wort und Tat zu unterstützen und dabei irrtümlich anzunehmen, dass es seine eigene Handlung unter ähnlichen Umständen gewesen wäre.

Eine andere Gefahr der Jugendunterdrückung, dass sie verantwortlich ist für Stagnation, wo Bewegung erforderlich wäre. Stopft den Jugendlichen den Mund und verstopft damit den Ausfluss neuer Ideen, neuer Ansichten und neuer Gedankenmuster - welche noch nicht nach Jahren der Heuchelei und Selbstverachtung so viele betrübt hat nach ihrem Coming-Out, bevor Stonewall stattfand. Wir Jugendliche sind bekannt für unsere Radikalität - durch einige, natürlich jugendentmündigend, als unsere "Naivität" und unseren "Optimismus" bezeichnet. Demnach haben wir nicht genug Lebenserfahrung, um zynisch genug zu werden zu verstehen, dass "wir nicht alles ändern können." Diese jugendentmündigende Doktrin vergeudet lediglich die Kraft der Jugend im Kampf, die Welt zu verändern; was auch immer die Quelle unserer Energie und unseres Radikalismus ist, es existiert noch und sollte gepflegt statt verunglimpft werden.

"Schwule Jugend von New York" (Gay Youth of New York) ist eine Pioniergruppe - gegründet genau vier Monate vor Stonewall. Wenige anderer Gruppen können dies von sich behaupten. Schon vor der Bewegung für schwule Rechte, wie wir sie kennen, hatte die Jugend bereits begonnen sich aufzustellen - um ihre Identität zu bekräftigen - um zu versuchen, die Welt zu verändern.

Ich habe Ihnen die Bedrohung für diese Jugendbewegung aufgezeigt, die durch weitere Unterhaltung der Jugendentmündigung entsteht. Eliminiert die jungen Leute und Ihr eliminiert jede Chance für die Zukunft!

Und wie kann man die unbewusste Jugendentmündigung eines jeden Einzelnen überwinden und das Bewusstsein dafür schärfen? Der erste Schritt ist die Überprüfung des jeweiligen Vokabulars. Prüft, ob sie Worte wie "Kind", "Kid" oder "Baby" enthält - benutzt in einer abwertenden Weise, um ungehorsames oder unreifes Verhalten zu bezeichnen. Oder Ausdrücke wie "Lesben und schwule Männer", die das große Feld der schwulen männlichen Bevölkerung unter 18 ausschließt; "er/sie ist in dem Alter" oder "er/sie ist nur ein Kind", welche unfaire Verhaltensurteile zu bestimmten Altersstufen anbringen oder "Du bist alt genug, um es besser zu wissen", dass unterstellt, dass Wissen und Alter immer gleichmäßig in direktem Verhältnis zueinander wachsen.

Viele, die von Jugendentmündigung hören, tuen es einfach als einen weiteren Versuch "dieser jungen Grünschnäbel" ab, die Erwachsenen zu tyrannisieren, damit diese ihnen freien Lauf lassen zu tun, was immer sie wollen. Was diese Leute nicht wahrhaben wollen, ist die Tatsache, dass jede Befreiungsbewegung für seine Teilnehmer das Ziel hat, die Freiheit zu erlangen zu tun, "was immer man will". Jugendbefreiung unterscheidet sich hierbei nicht von der Frauenemanzipation, der Schwulenbewegung, der Dritte-Welt-Bewegung und jeder anderen Befreiungsbewegung. Die Jugend als unwürdig abzutun, diese Freiheit zu bekommen, bloß "weil sie nur Kinder sind", ist natürlich der Gipfel (oder besser gesagt das Allerletzte) der jugendentmündigenden Akte.

Dieser Aufsatz beschäftigt sich mit der Altersunterdrückung gegen die Jugend. Aber vergesst nicht, dass es dieselbe Unterdrückung auch gegen Ältere gibt. Vorwürfe von Senilität oder ähnlichen Behauptungen werden oft benutzt, um die Stimmen der älteren Generatiuon zu unterdrücken. Die amerikanische und auch viele andere westliche Gesellschaften schieben ältere Bürger ab, wie Reptilien tote Haut. Sie werden in Pflegeheimen und Krankenhäusern zusammengepfercht, wo sie dann sitzen und "Staub ansetzen". Niemand scheint zu begreifen, dass hohes Alter für jeden unvermeidbar ist; aber wenn man es dann gemerkt hat, dass die Gesellschaft, der man so lange gedient hat, einen abgeworfen hat, wird es zu spät sein.

Der Kampf gegen die Jugendentmündigung sollte ein wichtiges Ziel der heutigen Schwulenbewegung sein. Jugendliche sind die am meisten einbundenen, engagiertesten, lautesten und leistungsfähigsten Leute, die zur Zeit in der Bewegung aktiv sind. Wir, die wir genauso hart für die Befreiung arbeiten wie jeder Erwachsene, sollten nicht den Unterdrückungsbeleidigungen der Leute ausgesetzt sein, die unsere Bemühungen verweigern. So nehmen wir auch nicht den hintersten Sitz im Bus, auch wenn viele uns dort am liebsten sehen würden. Wir werden nicht untätig zuhören, während Entscheidungen ohne unsere Einbidung getroffen werden, die uns betreffen. Wir werden es nicht zulassen, dass wir übersehen, überwältigt oder verspottet werden. Wir werden nicht weiter die jugendentmündigende Propaganda, die uns von unseren Eltern und Lehrern vermittelt wird, verinnerlichen. Wir werden nicht stur zu allem "Ja und Amen" sagen, bloß weil wir dies von einer Person mitgeteilt bekommen, die dreimal so alt ist wie wir. Wir WERDEN GEHÖRT werden!!!!

(Michael Alhonte schrieb dies mit 18 als Mitglied der Schwulengemeinde New Yorks.)

Dieser Aufsatz ist entnommen The NAMBLA BULLETIN, Vol. 4, Nr. 3 (April, 1983), S. 8.

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